COVID-19: WSD mahnt Wahrung der Persönlichkeitsrechte von Menschen mit Diabetes ein
31. März 2020COVID-19: Gesundheitsminister stellt Regelung für Risikogruppen vor
21. April 2020Diabetes in Zeiten von Corona: „Die haben keine Zeit für uns“
Die Corona-Krise bringt die Gesundheitssysteme an die Leistungsgrenzen. Und sie macht Baustellen in unserem Gesundheitswesen sichtbar: In einer Zeit, in der alles auf die Versorgung von Patienten mit COVID-19 fokussiert, fühlen sich viele Menschen mit Diabetes und Wundheilungsstörungen allein gelassen – ein Situationsbericht aus dem Wundzentrum Wien 22.
Dr. Adalbert Strasser
„Ich kann nicht mehr“ – eine Diabetikerin mit einer chronischen Wundheilungsstörung
„Ich bin so froh, dass Sie offen haben, Respekt“ – ein Wundpatient
„Wann ist der Wahnsinn vorbei?“ – ein Wundpatient
„Ich soll in 6 Wochen wieder vorbei schauen! – ein Wundpatient (der Name der Ambulanz ist uns bekannt)
„Die haben keine Zeit für uns“ – derselbe
„Darf ich eh wieder kommen?“
„Bleiben sie gesund.“
So stellt sich uns die Lage Tag tagtäglich dar
Besorgte, verzweifelte Menschen suchen Hilfe. Sie fühlen sich vergessen, eine Randgruppe der Gesellschaft. Zweifach mit Risiko belastet: Risiko Diabetes und Risiko Wunde – viel mehr geht ja nicht mehr.
Die Menschen sind sehr diszipliniert, sie halten sich akribisch an die Vorgaben. Abstand halten, Händewaschen, Mundschutz – wären alle so, würden sich alle so an die Vorgaben halten, wäre unser Gesundheitssystem derzeit nicht so extrem gefordert. Die meisten leben isoliert, von ihren Familien und Freunden getrennt; sie müssen isoliert leben. Nur der Weg in die Ordination bringt Abwechslung und Zuwendung. Hier können sie reden, ihre Befürchtungen und Sorgen loswerden. Viele Betroffenen nehmen mit uns auch per E-Mail Kontakt auf, Datenschutz hin oder her. Sie wollen einfach Hilfe – auch eine Art der Telemedizin, die praktiziert wird.
Ein Patient nach dem anderen wird aufgerufen. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen werden die Patienten versorgt. Wir übernehmen das Case-Management, Medikamente, Heilbehelfe werden organisiert. Es gibt auch einen erfreulichen medizinischen Aspekt: Die Wunden heilen schneller. Die vorgegebene Isolation, die Schonung, die Ruhe führen zu überraschenden Heilungserfolgen. Viele Patienten waren vorerst darüber erstaunt, bis ihnen die Strategie der nötigen Ruhe und Schonung nähergebracht wird.
Viele Baustellen in unserem Gesundheitswesen tun sich auf
COVID-19 bringt auch solche Themen in eine Ordination, darf man sagen „Corona sei Dank“? Ein Patient, der sich intensiv mit dem Gesundheitssystem auseinandersetzt, hat mir einen Artikel aus der „Wiener Zeitung“ vom 02. April 2020 gegeben. Auszugsweise einige Passagen:
Patienten vermissen „ihre“ Ärzte, diese sorgen sich um ihr Einkommen und Schutzausrüstung. Dabei müssen chronisch Erkrankte weiterhin gut im niedergelassenen Bereich versorgt werden können – auch zur Entlastung der Spitäler.
Patientenanwalt Gerald Bachinger weiß seit dem Corona-Shutdown von einer neuen Art von Beschwerde zu berichten. Und zwar, dass „ihr“ Haus- oder Facharzt, „insbesondere Wahlärzte, zum kleineren Teil auch Kassenärzte, nicht erreichbar sind oder Praxen geschlossen sind“. Tatsächlich zeigt sich beim Monitoring der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) bei rund 8100 Kassenärzten von insgesamt 18.700 Ärzten mit einer Ordination, dass im Durchschnitt 18 bis 20 Prozent weniger tätig sind als vor der Corona-Krise. Sie haben weder E-Card des Patienten noch die eigene O-Card gesteckt. Sie haben also weder telefonisch noch in der Praxis ordiniert.
„Manche Ärzte, weil sie sich in Quarantäne befinden, andere, weil sie selbst erkrankt sind, nicht unbedingt an Covid-19, manche der Älteren möglicherweise auch aus Vorsicht“, erläutert Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres. Versorgungsengpässe gebe es jedenfalls nicht.
Auch Silvia Türk, die für das Gesundheitssystem verantwortliche Sektionsleiterin im Ministerium, zeigt sich nicht besorgt: „Die Ärzte mit Kassenverträgen kommen ihrem Auftrag nach, die Situation ist im Moment mit jener in Urlaubszeiten vergleichbar. Da muss man den Ärzten auch großen Dank aussprechen.“
„Im Moment schaut die Politik zu sehr auf den stationären Bereich, insbesondere die Intensivmedizin, und Covid-19-Fälle, zu wenig auf mögliche Kollateralschäden bei chronisch Erkrankten.“ Bei der Versorgung von rund 1,5 Millionen Menschen mit Bluthochdruck, rund 340.000 Diabetikern und 300.000 mit Lungenerkrankungen käme dem niedergelassenen Bereich sowie dem Pflegebereich eine enorm wichtige Rolle zu. „Viele davon brauchen regelmäßige Kontrollen ihrer Medikation.“ Ein gut funktionierender niedergelassener Bereich entlastet die Spitäler: „Jeder Lungenerkrankte, der jetzt nicht zur Beatmung ins Spital muss, sorgt dort für ein freies Bett und Ärzte, die sich Covid-19-Erkrankte kümmern können.“
Der Zeitungsbericht beschreibt die Situation, wie auch wir sie erleben. Ein Umdenken wird nötig sein. Der „chronisch Kranke“ wird in Zukunft im extramuralen Raum seine Versorgung finden, finden müssen. Schon jetzt sind die Weichen zu stellen, schon jetzt sind Zeichen zu setzen, Versäumnisse nachzuholen. Der besagte Patient macht sich Sorgen, werden die Zeichen überhaupt wahrgenommen, wissen die Verantwortlichen überhaupt Bescheid? Woher beziehen sie ihre Informationen, vor Ort? Wohl nicht, meint er. Ich musste ihm die Antwort schuldig bleiben.
Wenn der letzte Patient die Ordination verlassen hat ist vorerst Stille. Nachdenklich werden noch die ausständigen Routinearbeiten erledigt. Es erfolgt, mit Sicherheitsabstand und Mundschutz, die Lagebesprechung und man geht auseinander, in dem Bewusstsein, morgen wird sich nichts geändert haben.
Wie lange wird es noch dauern?